Im FrĂŒhjahr brach TR-Redakteur Michael Streitberg fĂŒr eine lĂ€ngere Reise ans andere Ende der Welt auf. Aus Japan gibt es einiges zu erzĂ€hlen. In Kyoto etwa erlag der Autor der Magie eines ĂŒberlaufenen Schreins, begegnete tönernen Marderhunden und wurde Zeuge eines kommunistischen Achtungserfolgs.
Der in Japan lebende US-Amerikaner Alex Kerr ist ein leidenschaftlicher, nimmermĂŒder Verteidiger der kulturellen Traditionen Japans. Jene Traditionen, beklagt er in seinem Ă€uĂerst empfehlenswerten Buch Lost Japan, wĂŒrden im Land selbst jedoch immer weniger wertgeschĂ€tzt. Die alte Art zu bauen weicht einer Ansammlung von AlptrĂ€umen aus Beton, unnötige DĂ€mme verschandeln die Landschaft, SchnellstraĂen, auf denen niemand fĂ€hrt, durchziehen Berge und HĂŒgel. Jahrtausende alte WĂ€lder, in denen einst die Götter wandelten, fallen der Rodung zum Opfer oder werden mit Industrie-Kiefern ersetzt. In seinem 1996 erschienenen Werk erwĂ€hnt Kerr einen Ort, an dem die Entzauberung Japans noch kaum Spuren hinterlassen hat. Der Fushimi Inari-Schrein in Kyoto, so Kerr, werde Touristen nur selten prĂ€sentiert. Denn er stĂŒnde fĂŒr jene verschĂŒttete animistische, urtĂŒmliche (bei Kerr im Original: esoteric) Auffassung des Shintoismus, die man ungern herauskehre.
Das HauptgebĂ€ude des Schreins liegt am FuĂe des Bergs Inari, dahinter erstreckt sich ein Bergpfad. Dessen Treppen fĂŒhren durch Tausende orangeroter Torii (Schreintore) und vorbei an zahlreichen Nebenschreinen. Meiner Meinung nach ist es jener Pfad, der diesen Ort so faszinierend macht.
- Pferdefiguren an einem Nebenschrein
- unzÀhlige rote Torii sÀumen den Bergweg
WĂ€hrend die von Kerr beklagte Zerstörung Japans sich nahezu ungebremst fortsetzt, hat sich seit 1996 zumindest eines verĂ€ndert: Zum wiederholten Mal, heiĂt es auf einem Hinweisschild, sei der Fushimi-Schrein zum beliebtesten touristischen Ausflugsziel Japans gewĂ€hlt worden. Und ja: Es ist immer sehr voll. Der Wirkung dieses lebhaften Orts der Einkehr und der AlltagsspiritualitĂ€t tut das jedoch keinen Abbruch. Hat man beim Aufstieg die Menschenmassen erst einmal hinter sich gelassen, verliert man sich im Durchschreiten der unzĂ€hligen Torii, entzĂŒndet RĂ€ucherwerk an einem der kleineren Schreine auf dem Weg. Dabei begegnet man vielen steinernen FĂŒchsen (Kitsune). Sie fungieren als Botschafter bzw. ZutrĂ€ger (und mitunter auch Abbilder) der Göttin Inari, der der Schrein gewidmet ist.
Inari ist die Göttin der Fruchtbarkeit, des geschĂ€ftlichen und weltlichen Erfolgs, des Reises und des Sakes. Schreine zu Ehren Inaris, an die sich entsprechend ihres groĂen ZustĂ€ndigkeitsbereichs Menschen in verschiedenen Lebenslagen wenden, gibt es ĂŒberall im Land. Der Fushimi Inari Taisha ist der bedeutendste von ihnen; kleinere habe ich jedoch auch schon in den Höfen groĂer Hotels in Tokyo entdeckt.
- Inmittten eines Nebenschreins im Tal wÀchst ein Baum
- Inari-Schrein im Hof eines Hotels in Tokyo
Bis man den Gipfel des Bergs erreicht hat, ist man eine ganze Weile unterwegs. An einer der mehr als zehn Raststationen kann man ein ein frisch im Kessel gekochtes Ei pellen, dazu einen heiĂen Kaffee trinken und sich Gedanken hingeben, die einem anderswo niemals gekommen wĂ€ren. Wer nach Kyoto kommt, sollte auf einen Besuch dieses wundersamen Ortes nicht verzichten.
Am Schrein grĂŒĂt ein Tanuki
Es ist unmöglich, an dieser Stelle auch nur einem Bruchteil der unzÀhligen Schreine und Tempel gerecht zu werden, die so viel zur AtmosphÀre der Stadt Kyoto beitragen. Einen kann ich allerdings nicht unerwÀhnt lassen: Wer die herrliche Anime-Serie The Eccentric Family gesehen hat, dem ist der Shimogamo-Schrein bereits ein Begriff.
Der Schrein, erbaut vermutlich im 6. Jahrhundert und Teil des UNESCO-Weltkulturerbes, ist das Zuhause jener Tanuki-Familie, deren wildes Leben wir bereits seit zwei TV-Staffeln begleiten. Man ist sich der BerĂŒhmtheit seiner Bewohner bewusst. Schon mehr als einmal fanden am Schrein Feiern und Zeremonien in Anwesenheit von Regisseur Tomihiko Morimi sowie der Produzenten, Synchronsprecher und Fans statt. Und tĂ€glich grĂŒĂt an einem der NebengebĂ€ude â niemand geringeres als der Tanuki YasaburĆ Shimogamo.
In einem GeschĂ€ft können nicht nur, wie in Shinto-Schreinen ĂŒblich, hölzerne Votivtafeln und Talismane erworben werden. Neben Fanartikeln aus dem Eccentric Family-Universum finden sich in einer Glasvitrinee auch unverkĂ€ufliche Unikate â darunter sogar der geliebte Portwein des trinkfreudigen Lehrmeisters Akadama-sensei.
Rotes Kyoto
Kyoto ist nicht nur die Stadt der Tausenden Tempel und Schreine, der traditionellen KĂŒnste und der zahlreichen Ăberbleibsel höfischer Eleganz. Kyoto war und ist auĂerdem eine Hochburg der politischen Linken in Japan. Ăber Auseinandersetzungen an der renommierten Kyoto-Uni, an der die auĂerparlamentarische radikale Linke noch immer eine gewisse Rolle spielt, haben wir vor geraumer Zeit berichtet.
Auch die gemĂ€Ăigte, de facto vielleicht eher sozialdemokratische Japanische Kommunistische Partei (JCP) hat in Kyoto seit Jahrzehnten zahlreiche UnterstĂŒtzer. Die Partei, die den Ă€uĂersten Linken FlĂŒgel des konservativ und neoliberal dominierten japanischen Parlaments bildet, konnte bei den BĂŒrgermeisterwahlen im April einen beachtlichen Erfolg erringen. Die nur von ihr und diversen BĂŒrgergruppen unterstĂŒtzte parteilose Kandidatin Kazuhito Fukuyama, ehemalige Vizevorsitzende der Kyotoer Anwaltskammer, erhielt ganze 44,1 Prozent der Stimmen. Und das, obwohl ihr Gegenkandidat vom gesamten politischen Establishment getragen wurde: Von den Rechtskonservativen bis hin zu den Linksliberalen hatten sich alle hinter dem eng mit der Zentralregierung in Tokyo verbandelten Kandidaten versammelt. Er gewann schlieĂlich mit 55,9 Prozent (genaue Ergebnisse hier, zum Hintergrund noch ein Nachwahlbericht aus der Japan Times). Es kann jedoch nicht unerwĂ€hnt bleiben, dass dem besten Ergebnis der JCP seit Jahrzehnten eine sehr niedrige Wahlbeteiligung von nur knapp ĂŒber 35 Prozent gegenĂŒberstand.
Als ich auf den Bus wartete, erblickte ich eines Tages ein kleines WahlbĂŒro der JCP, das leider unbesetzt war. Ein Appell gegen die Revision des Verfassungsartikel 9, der Japan zum Frieden verpflichtet und die AngriffsunfĂ€higkeit des Landes vorschreibt, erstreckte sich ĂŒber die GebĂ€udefront. An den WĂ€nden prangten Plakate von Kazuhito Fukuyama – die BĂŒrgermeisterwahl lag erst wenige Tage zurĂŒck. Eine traditionelle GlĂŒckskatze ( Maneki Neko ) war ebenfalls zu sehen. Allerdings winkte sie untypischerweise nicht Gesundheit, Reichtum oder Liebe heran; vielmehr fuhr sie die Krallen aus gegen die von der konservativ-neoliberalen Zentralregierung in Tokyo geplante Erhöhung der Verbrauchssteuer von 8 auf 10 Prozent aus.
- ăă€ăă€(Bye, bye) zur Verbrauchssteuererhöhung
- WahlbĂŒro der JCP
Marderhunde im Garten
Ich wĂ€re wohl kaum Redakteur von Tanuki Republic, wenn ich in Japan nicht ausgiebig Ausschau nach den trinkfreudigen, gemĂŒtlichen, bisweilen aber auch entschlossenen und kĂ€mpferischen (siehe dazu etwa Isao Takahatas Film Pom Poko oder auch Mizuki Shigerus Manga Kitaro and the Great Tanuki War) Marderhunden gehalten hĂ€tte. Auch in Kyoto wurde ich fĂŒndig: Nicht weit entfernt vom Eingang zum buddhistischen Tempel Nison-in, in dessen wunderschönem, weitlĂ€ufigem Friedhofsgarten ich mich verlor, entdeckte ich ein GartencafĂ©. Umgeben von einer eindrucksvollen Sammlung von Tanuki-Statuen kann man dort köstlichen Matcha-Tee zu traditionellen japanischen SĂŒĂigkeiten trinken. FĂŒr das Ensemble einer Tanukifamilie nebst Frosch lieĂen sich die Betreiber womöglich von einer bereits erwĂ€hnten Anime-Serie inspirieren.
- An welche Serie erinnert das?
- (FrĂŒh)Sommer, Sake, Tanuki
Stay tuned: Im zweiten Teil geht es nach Tokyo. Neben einem Abstecher zum Hauptquartier der Kommunistischen Partei wird es Betrachtungen zu rechten Aktivisten mit LautsprecherwĂ€gen, Riesenrobotern auf kĂŒnstlichen Inseln, Osamu-Tezuka-Bussen und Kabuki geben. AuĂerdem: Diverse MangalĂ€den und andere GeschĂ€fte – diese jedoch ganz ohne Bilder.
Fotos: Michael Streitberg